
Der Dämon, der durch Träume wandelt
Blood Red Sandman ist eines dieser Hörspiele, die man nicht nebenbei hören sollte. Es lebt von Stille und plötzlichen Spitzen, von Stimmen, die zu nahe ans Ohr rücken, und von Geräuschen, die sich wie feiner Staub in die Ohren legen. Der Titel lässt an eine folkloristische Figur denken, aber Kim Jens Witzenleiter, Autor und Regisseur, biegt die populäre Vorstellung vom harmlosen Sandmännchen in eine düstere Mythologie um: Der Sandmann ist hier kein freundlicher Begleiter in den Schlaf, sondern ein uralter Dämon, Herrscher der Traumwelt, der Menschen im Schlaf heimsucht und ihnen die Seele stiehlt. Diese Setzung ist der Motor des gesamten Stücks—und sie funktioniert, weil sie gleichzeitig vertraut und fremd ist: Wir kennen die Kulturfigur, wir kennen das Ritual des Einschlafens, und genau hier setzt die Inszenierung an und öffnet einen Riss in die Normalität. Das Ergebnis ist ein Horrorhörspiel, das seine Effekte weniger aus Splatter, sondern aus Atmosphäre, psychologischer Spannung und einem sehr bewussten Umgang mit Klang bezieht. Dass Wolfy-Office das Werk zusätzlich in einem 5.1-Mix als Hörspielfilm auf DVD und Blu-ray herausgebracht hat, ist mehr als ein Gimmick; es markiert den Anspruch, mit Raum und Richtung zu erzählen—mit Stimmen, die wandern, und mit Geräuschen, die aus der Tiefe kommen.
Kontext, Veröffentlichung & Formate
Blood Red Sandman erschien Ende 2017. Das Hörspiel liegt in verschiedenen Ausspielungen vor: als 2-CD-Ausgabe, als digitaler Release sowie in einer speziell abgemischten Dolby-Digital-5.1-Fassung auf DVD und Blu-ray. Die Laufzeit der Audioversion beträgt etwa 88 Minuten; die Produktion stammt von Wolfy-Office, einem Label, das in den Jahren zuvor mit Comedy- und Genremischungen (Men in Green u. a.) aufgefallen ist, hier aber ganz bewusst ein reines Horrorprofil anstrebt. Die Entscheidung für eine Surround-Abmischung spiegelt diesen Ansatz: Der Sound soll nicht nur Kulisse sein, sondern erzählerisches Instrument. Witzenleiter firmiert als Autor und Regisseur—die kreative Handschrift ist also bewusst aus einem Guss.
Handlung & Setting (spoilerarm)
Die Ausgangslage ist schnell umrissen und sehr wirkungsvoll: Was als mittelalterliche Legende beginnt, wird zur Gegenwartsbedrohung. Ein Mönch opfert sich im Jahr 1047, um den dämonischen Sandmann in den ewigen Träumen eines Toten zu bannen. Über die Jahrhunderte verwässert die Erinnerung, die Figur wird zum Märchen. Doch ein Bann ist niemals endgültig. Als der Sandmann nach beinahe tausend Jahren entkommt, beginnt eine Kaskade von Ereignissen in der Gegenwart—an der Oberfläche modern, mit Partys, Cliquen und alltäglichen Konflikten, darunter jedoch durchzogen von einem uralten Mythos, der sich nun in Träumen Bahn bricht. Das Hörspiel verschiebt fortwährend die Grenze zwischen Wachsein und Schlaf, zwischen realem Erleben und traumlogischem Horror. Immer wieder klebt man als Hörer an den Perspektiven einzelner Figuren, die nachts aufschrecken, Stimmen hören oder dem eigenen Atem lauschen, als wäre er nicht mehr der eigene. Diese Nähe im Erleben ist ein kluger Kunstgriff: Der Sandmann agiert unsichtbar, und gerade dadurch entsteht die Unruhe. Das Stück setzt auf die Angst vor Kontrollverlust, auf das Unbehagen, wenn etwas Vertrautes kippt. Es liefert keine kryptische Rätselstruktur, sondern eine Gradwanderung: genug konkrete Anhaltspunkte, um zu folgen, genug Leerstellen, damit die Bilder im Kopf des Hörers wachsen.

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Jetzt dem WhatsApp-Kanal beitretenFiguren & Sprecher
Die Figuren sind durchweg zeitgenössisch angelegt—Freundinnen und Freunde, Eltern, Autoritätspersonen—und werden von einem hochkarätigen Sprecherensemble getragen. Namentlich hervorzuheben sind etwa Chiara Haurand, Nikolai Will, Rieke Werner, Sandra Schwittau, Paulina Weiner und Martin Bonvicini; die Liste ist nicht vollständig, aber sie markiert den Klangraum: von jungen Stimmen mit authentischem Sprechgestus bis zu markanten Charakterstimmen, die Autorität und Gravität in die Szenen tragen. Rieke Werner ist als Cindy belegt; Sandra Schwittau, vielen als deutsche Stimme von Bart Simpson vertraut, ist hier als Dr. Sahlmann zu hören und verleiht der Rolle eine Mischung aus Professionalität und unterschwelligem Unbehagen. Martin Bonvicini wiederum ist eng mit der Figur des Sandmanns verknüpft—sein Timbre gibt dem titelgebenden Wesen einen unheimlichen Kontrast aus Lockung und Drohung. Diese Besetzung macht sich bezahlt, weil Blood Red Sandman stark dialogisch funktioniert: Figuren müssen unter Stress glaubwürdig reagieren und den Hörer in Situationen hineinziehen, in denen Information und Emotion gleichzeitig getragen werden. Das gelingt besonders in Szenen, in denen Alltagszank plötzlich kippt, in denen Atmo und Stimme sich so verhaken, dass ein Satz mitten im Wort zu frieren scheint.
Auffällig ist der bewusste Einsatz von authentischer Jugendsprache in den Freundeskreis-Dialogen. Sie ist nicht zum Selbstzweck da, sondern soll Situationen lebensnah erden: Party, Streit, flapsige Sprüche gegen Eltern und Autoritäten—und dann Risse, wenn das Übernatürliche einbricht. Das funktioniert, weil die Spontaneität nicht als Klamauk verkauft wird, sondern den Rahmen für Angstreaktionen bildet: Wer eben noch cool war, stottert plötzlich; wer schlagfertig war, ringt um Worte, wenn die Nacht nicht mehr zu Ende gehen will. Dieser Realismus in der Figurenzeichnung macht den Kontrast zur Mythologie größer, und genau daraus gewinnt das Hörspiel seinen Reiz.
Dramaturgie & Pacing
Die Struktur von Blood Red Sandman folgt einem Bogen, der den Hörer an die Hand nimmt, ohne ihn zu bevormunden. Die Exposition rollt den Mythos kompakt aus, und schon hier arbeitet der Text mit Bildern, die später wiederkehren (Staub, Körner, Augen, die trocken brennen). Danach verlagert die Dramaturgie den Schwerpunkt in die Gegenwart: Wir lernen Figuren kennen, aber nicht in ausufernden Porträts, sondern entlang von Situationen, die sich steigern. Dabei verzichtet das Stück auf große Expositionserklärungen und setzt eher auf die Reibung zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was man als Hörer ahnt. Je weiter das Hörspiel fortschreitet, desto häufiger werden Traumsequenzen, Einbrüche in die Wahrnehmung, Stimmen aus der Tiefe. Die Spannungsführung erinnert eher an einen Psychothriller als an klassischen Monsterhorror: Der Antagonist bleibt oft abwesend-präsent. Das Finale, ohne zu spoilern, bündelt die Motive so, dass es weniger um eine physische Konfrontation als um das Durchstoßen von Schichtungen geht—Schlaf, Erinnerung, Schuld. Das Pacing ist dabei bewusst wechselhaft: Momente der Ruhe (oft akustisch weit) kippen in enge, dichte Passagen, in denen Schnitte plötzlich hart sind, Schritte zu nah kommen, Atem auf Metall trifft. Diese Wechsel sind nicht nur Spannungstricks; sie sind das eigentliche Thema: Das sichere Terrain wird zur unsicheren Innenwelt.
Sounddesign & Musik
Das Herz der Produktion schlägt im Klang. Selbst wenn man die Stereoversion hört, ist zu spüren, dass die Inszenierung für Raum konzipiert wurde. Atmo wird nicht flächig verlegt, sondern in Schichten angeordnet: Vordergrund-Geräusche, die als Spielpartner der Stimmen funktionieren; Mittelgrund, der die Szene verortet (Zimmer, Flur, Club, draußen); Hintergrundflächen, die kaum als konkrete Geräusche identifizierbar sind, sondern als Druck, als Fallen im Frequenzraum, die das Gefühl von Schlafparalyse simulieren. In der 5.1-Fassung (und, abgemildert, in der Stereoabmischung) nutzt das Hörspiel Ortung: ein Flüstern, das hinten links beginnt, gegen den Uhrzeigersinn wandert und vorne rechts endet; Schritte, die sich im Raum drehen; ein plötzliches Anhauchen ganz nah am Ohr. Dieser Einsatz von Richtung ist in Hörspielen immer dann besonders wirksam, wenn er narrativ motiviert ist, und genau das ist hier der Fall: Der Sandmann ist eine entgrenzte Figur—er steht nicht vor dir; er ist um dich. Der Raum wird somit zum psychologischen Druckmittel.
Die Geräuschdramaturgie verzichtet zu großen Teilen auf plakatives Schockgeklapper; sie setzt auf Texturen: trockene Körner, die irgendwo rutschen, ohne zu fallen; feine Reibegeräusche; Haut auf Kissen; knappe, plötzliche Schnitte, die wie Lid-Schläge funktionieren. Dazu kommen Klangfelder, die an tiefe Synth-Drones erinnern—nicht als musikalische Teppiche, sondern als eine Art akustisches Vakuum, das den Dialogen Gewicht gibt. Die Musik hält sich insgesamt zurück und dient als Spannungsbrücke zwischen Szenen, als kurzer Impuls vor einem Bruch oder als Nachhall nach einer Erkenntnis. Es ist genau diese Zurückhaltung, die den Schreckmomenten Glaubwürdigkeit verleiht: Wenn mal eine Tonfläche aufzieht, hat sie Bedeutung; wenn sie wieder wegfällt, atmet die Szene neu. In Summe entsteht ein Klangdesign, das weniger auf Auflösung als auf Erfahrung zielt.
Für Hörer mit Surround-Setup lohnt die 5.1-Variante besonders: Einige Szenen sind offensichtlich auf Bewegung geschrieben—Stimmen zirkulieren, Türen schlagen aus einer Richtung, in der man sie nicht erwartet, und der Subwoofer arbeitet äußerst sparsam, aber dann mit maximaler Wirkung, etwa bei niederfrequenten Einschlägen oder beim Gefühl, dass etwas Schweres durch den Traumraum wandert. Das ist keine Effekthascherei, sondern durchdachte Erzählmechanik im Raum.
Inszenierung, Regie & Text
Witzenleiters Regie ist primär akustisch-psychologisch. Der Text würde auf Papier vermutlich nüchterner wirken; in der Inszenierung bekommt er über Pausen, Atmung, Unterbrechungen seine Reibung. Ein typisches Muster: Ein Satz beginnt sicher, stockt, wiederholt ein Wort, korrigiert sich, flüstert etwas, das vielleicht nicht für das Gegenüber gedacht ist. Diese Mikrobewegungen im Dialog sind es, die das Stück warm machen—man glaubt, den Figuren beim Denken zuzuhören. Gleichzeitig erlaubt die Regie den Stimmen, auch mal zu groß zu sein, wenn die Traumlogik kippt: Echo, Verzerrung, zu naher Raum. Die Mischung aus Realismus und Überhöhung ist bewusst gewählt und zahlt auf die Grundidee ein: Im Schlaf gibt es keine Regeln der Distanz.
Sprachlich arbeitet das Hörspiel klar und direkt, ohne verkopfte Metaphorik. Es benutzt wiederkehrende Bilder: Sand, Augen, Müdigkeit, trockene Kehlen, die nicht durch Wasser, sondern durch Ruhe gelindert werden sollen. Diese Wiederholungen sind keine Manierismen, sondern Orientierungspunkte—sie markieren, wann eine Szene vom Normalen ins Unheimliche kippt. Der Text vertraut zudem auf Andeutungen statt auf Erklärreferate. Wenn Informationen geliefert werden, dann meist in Funktion: Eine Figur weiß oder ahnt etwas, aber sie sagt es nicht in Wikipedia-Prosa, sondern in Sätzen, die aus Situationen kommen. Das lässt Ambiguität zu, ohne unklar zu werden.
Themen & Motive
Mythos vs. Moderne. Das offensichtlichste Motiv ist die Überblendung von Legende und Jetztzeit. Der Sandmann als 3.000 Jahre alter Dämon bringt eine archaische Wucht mit, die in modernen Lebenswelten aufläuft. Partys, Smartphones, Streit mit Eltern wirken plötzlich klein und hilflos gegen eine Macht, die außerhalb unseres Zeitgefühls steht. Das Hörspiel stellt keine kulturgeschichtliche Abhandlung daneben; es lässt die Figuren diese Asymmetrie spüren und den Hörer mit ihnen.
Schlaf als Schwellenzustand. Schlaf ist hier nicht Erholung, sondern Risiko. Wer schläft, senkt die Abwehr, und gerade im Schlaf setzt der Sandmann an. Das Hörspiel nutzt das, um Kontrollverlust, Scham (wer hat Angst im Bett?), aber auch Abhängigkeiten zu verhandeln: Was tun, wenn Wachbleiben keine Option ist? Wie schützt man sich, wenn der Feind innen angreift?
Schuld & Verdrängung. Mehrfach deutet das Stück an, dass persönlicher Ballast die Angreifbarkeit erhöht: Unausgesprochene Konflikte, Lügen, kleine und große Schuld—nichts davon wird als moralische Rechthaberei ausgestellt, aber als Schwachstelle in der Psyche markiert. Wenn der Sandmann kommt, findet er Einfallstore in Spalten, die schon existieren.
Blick & Auge. Ein wiederkehrendes Bild: brennende, müde Augen; das Gefühl, Sand unter den Lidern zu haben; der Wunsch, sie zu schließen, obwohl man weiß, dass genau das gefährlich ist. Das Auge als Übergang zwischen Welt und Innen—klassisch für Horror, aber hier schlüssig mit dem Sandmotiv verschaltet.
Stimme & Nähe. Weil das Medium akustisch ist, wird Nähe zur Waffe. Flüstern, das in die Ohrmuschel kriecht, lässt den Körper reagieren. Das Hörspiel thematisiert Nähe und Distanz in Beziehungen (Freunde, Eltern, Autoritäten) und spiegelt das akustisch: Wer zu nah kommt, überschreitet Grenzen; wer zu weit weg ist, schützt nicht mehr.

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Jetzt dem Bluesky-Kanal folgenRezeption & Einordnung
Die Reaktionen auf Blood Red Sandman waren und sind gemischt, und das ist interessant. Auf der einen Seite gibt es sehr positive Einschätzungen, die die Qualität der Produktion, die originelle Mythenadaption und die atmosphärische Dichte loben. Dort wird besonders die glaubwürdige Alltagssprache der Jugendlichen hervorgehoben und der Effekt, dass daraus Kopfkino entsteht—man meint, mitten in einer echten Clique zu stehen, bis der Horror die Luft aus dem Raum saugt. Auf der anderen Seite gibt es auch kritische Stimmen, die die Dramaturgie stellenweise als uneben empfinden oder die Mischung als nicht durchgängig überzeugend beschreiben. Diese Polarisierung erklärt sich aus dem Ansatz: Wer knapp geschlossene, klar kausale Horrorkurven erwartet, könnte die Ambiguität als Schwäche lesen; wer Atmosphäre liebt, bekommt hier reichlich. Die bewusste Entscheidung für eine 5.1-Abmischung hat ebenfalls Kommentare ausgelöst—mal als Qualitätsmerkmal, mal als zu viel Effekt. Objektiv lässt sich festhalten: Das Hörspiel ist hörerführend genug, um nicht beliebig zu wirken, aber frei genug, um Bilder im Kopf zu provozieren. Genau daraus entsteht seine anhaltende Diskussionswürdigkeit.
Schauspiel & Figurenführung – Detailblick

Die Leistung der Sprecher ist ein zentraler Pfeiler. Chiara Haurand und Nikolai Will tragen maßgeblich die Gegenwartsebene: Ihre Stimmen sind nicht gestellt, sie arbeiten mit Brüchen, mit Lachen, das in der Kehle hängen bleibt, und mit Atem, der vom Satz abgekoppelt scheint. Rieke Werner gibt als Cindy eine präzise Mischung aus Energie und Verletzlichkeit—sie klingt jung, ohne jung zu spielen, und verwandelt Stress nicht in lautes, sondern in enges Sprechen. Sandra Schwittau bringt in ihrer Rolle eine professionelle, leicht distanzierte Tonlage mit, die in Krisenmomenten kippt; genau diese Kippmomente sind im Medium Hörspiel Gold wert. Martin Bonvicini legt den Sandmann nicht als brüllendes Monster an, sondern als Präsenz mit Oberflächenwechseln: warm, lockend, dann plötzlich eiskalt. Das Ensemble insgesamt überzeugt durch Timing. Viele Repliken wirken so, als seien sie einen Hauch zu spät oder zu früh—und genau dieser Hauch macht sie lebendig. Die Regie mischt diese Nuancen vorn, sodass man sie auf guten Kopfhörern in der Stereoversion bereits fein hört; in der Surround-Ausgabe entfalten sie eine zusätzliche Dimension.
Textur, Geräusche & Raum – ein Hörspielfilm im Kopf
Der Begriff Hörspielfilm fällt nicht zufällig. Die Produktion denkt in Szenenblöcken, die nicht bloß durch Musik getrennt werden, sondern durch hörbare Kamerabewegungen: Eine Tür öffnet sich hinten rechts, Schritte schneiden diagonal, eine Stimme tritt in den Vordergrund, während ein Hall aus dem Hinterraum nachzieht. Man kann Schnitt und Fahrt förmlich hören. Diese filmische Anmutung ist in Hörspielen riskant, weil der Hörer ohne Bild schneller die Orientierung verliert; hier ist sie in der Regel sauber geführt. Die Abmischung setzt Marker: ein klirrendes Glas, ein markantes Lüfterrauschen, ein entferntes Sirenfragment—kleine Leuchttürme, an denen sich das Ohr festhält, wenn die Szene stark moduliert. So bleibt man in der Welt, selbst wenn die Traumlogik Überhand gewinnt. In ruhigen Passagen—etwa späte Innenräume, Zimmer bei Nacht—spürt man die Glaubwürdigkeit der Atmo: keine überdeutlichen Loop-Geräusche, sondern dezente Wohnraumschichten (Textil, Holz, gelegentlicher Straßenhall). Diese Detailarbeit zahlt sich aus, wenn die Übergriffe passieren: Das Unheimliche tritt in eine glaubhafte Welt ein, und deshalb trifft es.
Horror ohne Schockabhängigkeit
Blood Red Sandman entscheidet sich gegen die Dauerdosis Schock und für die Schere zwischen Erwartung und Ereignis. Viele Szenen bauen Druck auf, lassen ihn stehen, nehmen ihn weg, ohne ihn in einem Buh! zu entladen—und schlagen dann später unerwartet zu. Diese Taktik funktioniert, weil sie den Hörer umprogrammiert: Man wartet nicht mehr auf den großen Knall, sondern lauscht auf kleine Abweichungen—ein Ton, der eigentlich nicht in die Nacht gehört; ein Atem, der nicht zur Figur passt; ein Satz, der doppelt klingt. Dadurch entsteht ein feiner, dauerhafter Unruhezustand, der wesentlich nachhaltiger wirkt als kurzlebige Jumpscares. Wenn dann doch einmal ein harter Einsatz kommt (ein Schrei, ein plötzliches Krachen), sitzt er.
Literatur- und Pop-Mythologie
Der Sandmann ist in der deutschen Kulturgeschichte doppelt kodiert: als Märchenfigur (Schlafsand, gute Träume) und als Schauergestalt (E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann). Witzenleiters Fassung holt Aspekte beider Sphären ab, ohne literaturwissenschaftlich zu werden. Sie benutzt die kindliche Vertrautheit als Falle und öffnet sie auf eine älteste Angst: im Schlaf wehrlos zu sein. Die Aktualisierung in eine Clique junger Erwachsener ist kein reiner Marketing-Move, sondern eine funktionale Parallelführung: Wer gerade erwachsen wird—das erste Mal Verantwortung, erste Tiefe in Beziehungen—ist besonders empfindlich für Kontrollverlust. So kippt das Coming-of-Age-Gefühl nahtlos in Coming-of-Horror.
Kleine Schwächen, die man wissen darf
Wo Licht ist, ist Schatten. Stellenweise kann die Szenenführung für Hörer, die sehr auf klare Ortsmarkierungen angewiesen sind, etwas fordernd sein; gerade, wenn Traumatmos und Wirklichkeit sich verschränken, ist die Orientierung kurzzeitig auf Kante genäht. Das ist einerseits Absicht, andererseits Geschmackssache. Auch die Balance zwischen natürlicher Jugendsprache und pointierter Dialogführung trifft nicht jeden—wer Sprache als zu locker empfindet, könnte manche Passagen als holprig erleben. Schließlich ist die 5.1-Abmischung zwar ein Gewinn, aber sie fordert vom Setup: Auf einfachen Boxen oder schlecht eingemessenen Anlagen kann die Ortung an Wirkung verlieren. Die Stereoversion ist jedoch solide genug, dass das Hörspiel auch ohne Surround überzeugt; die Raumidee bleibt nachvollziehbar.

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Für Hörer, die Horror als atmosphärisches, psychologisches Medium schätzen, ist das Stück eine klare Empfehlung. Wer gerne auf Details hört, bewusst mit Kopfhörer hört, wer Nähe und Stimme als Werkzeuge erleben will, bekommt hier viel Material. Einsteiger in das Genre sind nicht ausgeschlossen—das Hörspiel ist nicht extrem, sondern unheimlich—, sollten aber offen für Ambiguität sein. Puristen, die straffe Plot-Mechanik mit klarer Monsterlogik erwarten, könnten sich an den Zwischenzuständen reiben. Wer Surround liebt, findet in der 5.1-Fassung eine der überzeugenderen Adaptionen von Raumhörspiel der letzten Jahre im Independent-Bereich.
Fazit
Blood Red Sandman nimmt einen einfachen, aber starken Kern—der Sandmann als Dämon der Träume—und baut daraus ein akustisches Horrorerlebnis, das sein Medium ernst nimmt. Die Kombination aus gut besetztem Ensemble, einer Regie, die das Unsichtbare hörbar macht, und einer Klangdramaturgie, die Raum als Erzählparameter nutzt, hebt das Hörspiel über den Durchschnitt. Ja, die Produktion polarisiert, und ja, nicht jeder Moment sitzt perfekt. Aber gerade die Stellen, an denen das Stück Risiko geht—weniger Erklärung, mehr Atmosphäre; weniger Schock, mehr Atem—sind es, die im Ohr bleiben. Am Ende bleibt ein Horrorhörspiel, das nicht nur von Albträumen erzählt, sondern selbst wie ein Albtraum funktioniert: Man ist mittendrin, man weiß, dass es nur Ton ist, und trotzdem zuckt man, wenn das Flüstern zu nah kommt. Für Genrefans eine sehr hörenswerte, eigenständige Produktion, die zeigt, was mit Stimme, Raum und gut gesetzten Geräuschen möglich ist.
Blood Red Sandman
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- Label / Verlag: Wolfy-Office
- Veröffentlicht:
- Genre: Horror / Grusel
- Herkunft: Deutschland
Produktion
- Autor: Kim Jens Witzenleiter
- Regie: Kim Jens Witzenleiter
- Produzent: Kim Jens Witzenleiter
- Schnitt: Kim Jens Witzenleiter
- Lektorat: Chiara Haurand
- Sounddesign: Chiara Haurand
- Abmischung: Chiara Haurand
- Musik: Michael Donner
- Audio Engineers: Benjamin Senarath – main:vision | mediaworks , Vasilis Avgoustakis – Snakeytox recording studio , Peter Pathos – Sonicslave Studio , Boris Golz – bildKlang® | Tonstudio
Sprecher
- Martin Meyer – Nikolai Will
- Tamara Meyer – Chiara Haurand
- Reverend John Thompson – Andrew Witzke
- Susanne Bartel – Bine Schmitt
- Markus Rose – Joschi Hajek
- Sandmann – Martin Bonvicini
- Cindy – Rieke Werner
- Maria – Paulina Weiner
- Sandra – Catrin-Jessica Jänsch
- Tom – Jan Baumgart
- Francesca – Dani Ela Colantuono
- Jürgen – Jo Jung
- Ralf – Nils Weyland
- Nicole Meyer – Daniela Hoffmann
- Dr. Linda Sahlmann – Sandra Schwittau
- Dr. Mark Benecke – Dr. Mark Benecke
- Christian – Kevin Kasper
- Kevin – Philipp Winkler
- Herr Friedrich – Günther David
- Kinderstimme – Anna Isgrigg
- Kinderstimme – Anna-Lisa Adam
- Schmieriger Typ – Detlef Tams
- Traum Verbrecher – Daniel Hughes
- Notärztin – Kerstin Raphahn
- TV Moderator – Michael Grumptmann
- Polizist – Heinz-Peter Göldner
- Türsteher – Thomas Birker
- Unbekannt – Stefanie Pipus
- Unbekannt – Tanja Weyhe
- Unbekannt – Frederik Schatauer
- Unbekannt – Nathalie Göldner
- Unbekannt – Andrea Göldner
- Unbekannt – Kim Jens Witzenleiter
- Unbekannt – Mara Witzenleiter
- Unbekannt – Juliane Schewe
- Unbekannt – Charly Koch

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