
Ein akustisches Epos über den Ersten Weltkrieg
Tommies ist eine außergewöhnliche Hörspielreihe der BBC, die zwischen 2014 und 2018 auf BBC Radio 4 ausgestrahlt wurde. Sie wurde speziell für die Gedenkjahre des Ersten Weltkriegs konzipiert und verfolgt einen einzigartigen erzählerischen Ansatz: Jede Episode spielt exakt 100 Jahre vor dem Ausstrahlungsdatum und basiert auf authentischen historischen Quellen – insbesondere Tagebüchern, Briefen und offiziellen Dokumenten. Damit gelingt Tommies ein seltenes Kunststück: Es verbindet historische Genauigkeit mit emotional packendem Drama und macht die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs auf unvergleichliche Weise erfahrbar.
Im Folgenden wird die Serie ausführlich vorgestellt, inklusive inhaltlicher Struktur, Figuren, Themen und erzählerischer Besonderheiten.
Konzept und Struktur
Tommies ist keine klassische durchgängige Serie mit fortlaufender Handlung, sondern vielmehr eine lose verknüpfte Folge von Episoden, die verschiedene Kriegsschauplätze und Lebenswirklichkeiten beleuchten. Jede Folge ist in sich abgeschlossen, wobei einige wiederkehrende Figuren – insbesondere der Nachrichtenspezialist Mickey Bliss – als roter Faden dienen.
Insgesamt wurden über 40 Episoden produziert. Diese decken nahezu den gesamten Verlauf des Krieges ab und nehmen den Hörer mit an verschiedenste Fronten: nach Flandern, in die Dardanellen, nach Saloniki, Serbien, Afrika, Mesopotamien, Palästina und an die Heimatfront in Großbritannien. Die akustische Inszenierung nutzt dabei das volle Spektrum moderner Radiokunst: Geräusche, Archivmaterial, Musik und Sprachgestaltung werden meisterhaft eingesetzt.
Hauptfiguren
Mickey Bliss
Der britisch-indische Nachrichtenoffizier Mickey Bliss – gesprochen von Lee Ross – ist eine der zentralen Figuren in Tommies. Er arbeitet beim Signals Intelligence und gehört somit zu den Pionieren der modernen Kriegsführung, bei der Kommunikation, Abhörtechnik und strategische Informationsgewinnung eine immer größere Rolle spielen. Mickey ist klug, pragmatisch und loyal – ein Soldat, aber auch ein Skeptiker. Seine Reisen führen ihn an viele Kriegsschauplätze, und seine Perspektive erlaubt Einblicke in die bürokratischen und technischen Hintergründe des Krieges.
Celestine de Tullio
Eine weitere zentrale Figur ist die Ärztin Celestine de Tullio, die in den Balkanregionen tätig ist. Sie steht exemplarisch für die vielen Medizinerinnen und Krankenschwestern, die im Kriegslazarett unter schwierigsten Bedingungen arbeiteten. Ihre Episoden veranschaulichen den zivilen und medizinischen Alltag während des Kriegs und stellen wichtige ethische Fragen.
Weitere Figuren
Immer wieder tauchen neue Protagonisten auf: einfache Soldaten, Sanitäterinnen, Familienangehörige, Offiziere, Dolmetscher, Einheimische und Spione. Diese Vielfalt erlaubt es der Serie, ein vielschichtiges Bild des Ersten Weltkriegs zu zeichnen, das weit über Schützengräben und Trommelfeuer hinausgeht.
Historische Authentizität
Das Besondere an Tommies ist die akribische historische Fundierung. Die Serie basiert auf einer Vielzahl von Originalquellen, darunter Tagebücher, Briefe und Zeitungsberichte. Die Drehbuchautoren – darunter Jonathan Ruffle, Michael Chaplin, Nick Warburton, Avin Shah und Nandita Ghose – arbeiteten eng mit Historikern und Archivaren zusammen. Jede Folge hat einen dokumentarischen Kern, der dann dramaturgisch bearbeitet wurde.
Diese Herangehensweise verleiht der Serie eine hohe Glaubwürdigkeit. Die dargestellten Ereignisse – seien es militärische Operationen, politische Intrigen oder persönliche Schicksale – sind real oder hätten in ähnlicher Form genau so stattfinden können. Auch der Umgang mit Sprache, Uniformen, Technik und Zeitgeist ist detailgetreu und realistisch.
Erzählerischer Stil und Atmosphäre
Tommies nutzt alle Möglichkeiten des Radios, um eine dichte Atmosphäre zu schaffen. Die Produktion ist klar auf erwachsene Hörer ausgerichtet und schreckt nicht davor zurück, die Grausamkeit und Absurdität des Krieges realistisch darzustellen. Es gibt keine übertriebene Dramatik oder heroische Musik – stattdessen dominieren nüchterne Dialoge, stimmungsvolle Geräuschkulissen und ein fast dokumentarischer Tonfall.
Viele Episoden verzichten bewusst auf Musik und lassen die Klanglandschaften – von Maschinengewehrfeuer bis zu flüsternden Gesprächen in Nachtquartieren – für sich wirken. Diese Reduktion verstärkt die Unmittelbarkeit und zieht die Hörer tief in die jeweilige Szenerie hinein.
Ein weiteres erzählerisches Mittel ist der Perspektivwechsel. Häufig erlebt man das Geschehen durch die Augen einfacher Soldaten oder ziviler Helfer, wodurch das große Kriegsgeschehen auf eine menschliche Ebene heruntergebrochen wird.
Themen und Motive
Tommies behandelt eine Vielzahl von Themen, darunter:
- Der technologische Wandel der Kriegsführung (z. B. Funktechnik, Spionage, chemische Waffen)
- Die Rolle von Frauen im Krieg, insbesondere im medizinischen und logistischen Bereich
- Koloniale Perspektiven, etwa durch indische oder afrikanische Soldaten in der britischen Armee
- Trauma und psychische Belastung, etwa durch Shellshock
- Ethik im Krieg, z. B. durch Entscheidungen unter moralischem Dilemma
- Zensur und Propaganda
- Loyalität, Freundschaft und Verlust
All diese Themen werden nicht mit dem moralischen Zeigefinger präsentiert, sondern im Kontext des jeweiligen Geschehens eingebettet. Das macht die Serie vielschichtig und reflektiert – ein intellektuell wie emotional forderndes Hörspiel.
Episodenbeispiele (Auswahl)
Episode vom 14. Oktober 1914
Mickey Bliss ist mit einem Geheimauftrag in Belgien unterwegs. Die britischen Truppen versuchen, deutsche Bewegungen zu entschlüsseln. Gleichzeitig geraten sie in ein Gefecht nahe Ypern. Die Episode zeigt die Desorientierung in den ersten Kriegstagen und den verzweifelten Versuch, Übersicht zu behalten.
Episode vom 8. Oktober 1915
In dieser Folge begleitet der Hörer Celestine de Tullio in ein serbisches Lazarett. Eine Typhusepidemie fordert viele Opfer, und es mangelt an Medikamenten. Gleichzeitig muss sie sich gegen chauvinistische Offiziere durchsetzen, die ihren medizinischen Rat infrage stellen.
Episode vom 3. Juli 1916 – Somme
Eine der härtesten Episoden: die erste Woche der Schlacht an der Somme. Der Hörer erlebt die Schlacht aus dem Inneren eines Funkbunkers heraus. Zwischenmenschliche Spannungen, Angst und Pflichtbewusstsein treffen auf brutale Realität.
Rezeption und Bedeutung
Tommies wurde von der britischen Presse und Hörspielgemeinde hochgelobt. Die Serie gilt als eines der ambitioniertesten und qualitativ hochwertigsten Radioformate der letzten Jahrzehnte. Sie wurde für mehrere Preise nominiert und erhielt Anerkennung für ihre historische Genauigkeit, schauspielerische Leistung und künstlerische Umsetzung.
Auch im Bildungsbereich fand die Serie Verwendung. Schulen und Universitäten nutzten einzelne Folgen als Ausgangspunkt für die Diskussion über den Ersten Weltkrieg. Zudem wurde Tommies Teil des kulturellen Gedenkens an die Great War Centenary in Großbritannien.
Fazit
Tommies ist weit mehr als nur ein Kriegsdrama. Es ist ein akustisches Denkmal, das den Ersten Weltkrieg aus vielen verschiedenen Perspektiven hörbar macht. Die Serie verzichtet auf Pathos und nationale Selbstvergewisserung und zeigt stattdessen den Krieg als das, was er war: ein weltumspannendes, menschenvernichtendes Trauma.
Wer sich für Geschichte interessiert, findet in Tommies eine fundierte, emotional bewegende und hochprofessionelle Produktion. Wer gerne komplexe Erzählungen in Audioform konsumiert, wird von der atmosphärischen Dichte und der schauspielerischen Leistung begeistert sein. Tommies ist ein leises Meisterwerk – und verdient es, gehört und erinnert zu werden.
Tommies
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Produktion
- Created by: Jonathan Ruffle
- Written by: Jonathan Ruffle, Michael Chaplin, Nick Warburton, Avin Shah, Nandita Ghose
- Directed by: David Hunter, Jonquil Panting
- Produced by: David Hunter, Jonquil Panting, Jonathan Ruffle
- Opening Theme: composed by Nina Perry
Sprecher
- Sergeant Mickey Bliss – Lee Ross
- Ahmadullah Khan – Danny Rahim
- Pavan Jodha – Rudi Dharmalingam
- Celestine de Tullio – Pippa Nixon
- Robert de Tullio – Patrick Kennedy
- Lieutenant Maberley Dunster – Alex Wyndham
- Sergeant Walter Oddy – Tony Pitts
- Sister Marjorie Blaikeley – Elaine Claxton
- Major Hector Monkhouse – Clive Hayward
- Harry de Tullio – Sam Valentine
- Erzählerin – Indira Varma