
Tinnitus – Ein akustisches Drama über Schuld, Gewalt und die Unmöglichkeit des Vergessens Tinnitus, ein aufwühlendes Hörspiel der Lauscherlounge, ist weit mehr als ein klassisches Krimi- oder Jugenddrama. Es ist ein psychologisch tiefgehendes Kammerspiel im Kopf, das sich mit der verstörenden Realität sexualisierter Gewalt auseinandersetzt – und mit dem, was danach bleibt. Mit einem dokumentarischen Sounddesign und packendem Schauspiel eröffnet es ein Hörerlebnis, das nicht loslässt.
Inhalt
Die Geschichte beginnt vier Jahre nach der Tat: Tim, mittlerweile Anfang 20, wird aus der Jugendhaft entlassen. Die Zeit hat ihn verändert – äußerlich gereift, innerlich gezeichnet. Die Welt außerhalb der Gefängnismauern ist nicht dieselbe wie früher, und auch er ist nicht mehr der Mensch, der er einst war. Was ihn jedoch begleitet, ist der nicht enden wollende Tinnitus in seinem Kopf – ein Sinnbild für seine Schuld, seine Verdrängung, seine seelische Zerrissenheit.
Zur selben Zeit kämpft Lena, das Opfer, mit ihrem eigenen Überleben. Was ihr angetan wurde, hat sie in eine Spirale aus Angst, Isolation und psychischer Belastung gestürzt. Der Versuch, ihr Leben zurückzugewinnen, wird immer wieder von Erinnerungen, Misstrauen und gesellschaftlicher Stigmatisierung durchkreuzt. Auch sie hört – auf andere Weise – nie auf, das Echo jener Nacht zu spüren.
Die Figuren
Tim ist eine komplexe Figur: Täter, aber nicht nur Monster. Das Hörspiel vermeidet Schwarz-Weiß-Malerei, sondern zeigt ihn als jungen Erwachsenen, der sich mit echter Reue und der Ohnmacht über das eigene frühere Handeln konfrontiert sieht. Seine Innenwelt ist von Selbsthass, Angst und dem Wunsch nach Erlösung durchzogen – und der ständigen Frage: Darf jemand wie er noch ein Leben führen?
Lena wird in der Erzählung nie auf das Opfer reduziert. Ihre Perspektive ist ebenso zentral wie Tims. Sie ist wütend, verletzlich, kämpferisch, manchmal gebrochen, aber nie vollständig zerstört. Ihre Figur steht stellvertretend für viele junge Menschen, die in der Gesellschaft um Anerkennung ihres Leids ringen müssen – oft ohne Gehör.
Nele, Lenas beste Freundin, wird zu einer wichtigen emotionalen Stütze, stößt aber ebenfalls an ihre Grenzen, wenn es um das Verstehen und Verarbeiten des Geschehenen geht. Ihre Hilflosigkeit spiegelt die vieler Angehöriger wider, die mitansehen, wie ein geliebter Mensch leidet.
Tims Eltern, besonders seine Mutter, sind ebenfalls Teil dieses psychologischen Panoramas. Zwischen Scham, Entsetzen und dem Versuch, ihren Sohn trotzdem zu lieben, kämpfen sie mit ihrer eigenen moralischen Zerrissenheit. Wie lebt man damit, dass das eigene Kind eine unvorstellbare Tat begangen hat?
Therapeut:innen und Justizfiguren liefern zusätzliche Stimmen im Konflikt um Schuld, Vergebung und Gerechtigkeit. Sie öffnen ethische Fragen: Wo endet Verantwortung? Kann Reue genügen? Und was bedeutet eigentlich Gerechtigkeit für ein Opfer?
Klang & Inszenierung
Besonders hervorzuheben ist die akustische Gestaltung des Hörspiels. Die Regie von Max Benyo verzichtet bewusst auf die sterile Studioatmosphäre und setzt auf „on location“-Aufnahmen: in Wohnungen, Schulen, auf Straßen und in Gefängnissen. Der daraus entstehende Klangteppich wirkt nahezu filmisch. Geräusche, Stimmen, Umgebungsakustik – alles ist unmittelbar, roh, greifbar.
Das Ensemble von über 50 Sprecher:innen – darunter Jonathan Berlin als Tim und Elisa Schlott als Lena – agiert mit einer intensiven, fast atemlosen Präsenz. Die Dialoge wirken oft improvisiert und dokumentarisch. Das Resultat ist eine bedrückende Authentizität.
Wirkung & Rezeption
Tinnitus ist ein unbequemes Hörspiel. Es fordert seine Hörer:innen heraus – emotional wie moralisch. Es glorifiziert nichts, entschuldigt nichts, relativiert nichts. Stattdessen stellt es die Frage, wie eine Gesellschaft mit Schuld, Täter:innen und Opfern umgeht. Was passiert nach einer Tat, wenn das juristische Kapitel abgeschlossen ist, aber das seelische Trauma weiterlebt?
Das Hörspiel wurde 2018 als Hörspiel des Monats ausgezeichnet und später vom Podcast OhrCast zum Hörspiel des Jahres gewählt. Es hat viele Diskussionen ausgelöst – nicht nur über seinen Inhalt, sondern auch über seine ungewöhnliche Form.
Fazit
Tinnitus ist keine leichte Kost – aber genau deshalb wichtig. Es ist ein Hörspiel, das wehtut, aber nicht umsonst. Es regt an, nachzudenken, zuzuhören und zu verstehen – auch da, wo man lieber weghören würde. Ein Kunstwerk, das Mut beweist, inhaltlich wie inszenatorisch.
Laut einer EU-weiten Studie aus dem Jahr 2014 hat jede achte Frau in Deutschland sexuelle Gewalt erfahren. Im Jahr 2017 registrierte das Bundeskriminalamt bundesweit 11.282 Fälle von sexueller Nötigung und Vergewaltigung an Erwachsenen.
Betroffene erhalten anonyme und kostenlose Hilfe unter www.hilfetelefon-missbrauch.de oder telefonisch unter 0800 – 22 55 530.
Prävention ist der wirksamste Opferschutz:
Das Projekt I can change bietet vertrauliche, kostenfreie therapeutische Unterstützung für Menschen an, die befürchten, sexuelle Gewalt auszuüben. Ziel ist es, Taten zu verhindern, bevor sie geschehen. Weitere Informationen unter: www.praevention-sexueller-gewalt.de

Tinnitus
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- Label / Verlag: Lauscherlounge
- Veröffentlicht:
- Genre: Drama
- Herkunft: Deutschland
Produktion
- Buch & Regie: Max Benyo
- Musik: Sebastian Schmidt (Titelmusik, Szenentrenner und Scores)
- Aufnahme & Sound: Valentin Rövenstrunck, Robert Lehnert und Jana Peil
- Source Musik: Ben Valdern, Johannes Brandner, Audeeyah UG, Valentin Rövenstrunck, Raphael Schindler aka Radsch, Domenico Scarlatt, Piro, Falk Wöhrle, Johannes Brandner, Thilo Masuth
Sprecher
- Tim Lehmann – Jonathan Berlin
- Lena Franke – Elisa Schlott
- Milan Franke – Ole Herrmann
- Kerstin Stettmeier – Vera Teltz
- Rainer Franke – Uwe Preuss
- Meister Hartwig – Christian Koerner
- Anwalt Lorenz – Anian Zollner
- Mareike Schaad – Cathlen Gawlich
- Luisanne Franke – Anne Isensee
- Nico – Hendrik Heutmann
- Fabian – Christopher Reinhardt
- Christopher – Thomas Helle
- Patrick – Anton Andreew
- Bernhard Lehmann – Peter Sura
- Nicole Lehmann – Sylke Enders
- Artiom – Axel Werner
- Unbekannte Rollen & Komparsen – Mohamed Issa, Pablo Grant, Sebastian Kaufmane, Tobias Schenke, Arne Augustin, Wolfram Liehm, Julia Jendroßek, Omid-Paul Eftekhari, Luise Stiller, Maria Lehberg, Cristina Todorova, Estefania Sanlorenzo, Valentin Perez, Axel Deller, Lisa Laux, Jo Atzinger, Daniela Herr, Agnes Thiemann, Valentin Rövenstrunck, Katharina Ingwersen, Jana Peil, Katharina Mühl, Daniel Bonte, Anna Dittus, Omid-Paul Eftekhari, Elisa Fischer, Patrick Freund, Anja Füssel, Nicole Güse, Silke Köhler, Ulrike Kühn, Janina Langos, Maria Lehberg, Christopher Peters, Nele Rehahn, Linda Riedel, Angela Schoubye, Jenifer Swazina, Cristina Todorova, Steffen Zöhl