
Mit Van Dusen – Dunkle Pfade I setzt Holysoft seine Neuauflage der berühmten Hörspielreihe um Professor Augustus van Dusen fort. Ursprünglich Anfang des 20. Jahrhunderts vom US-amerikanischen Autor Jacques Futrelle erfunden und später von Michael Koser für den RIAS Berlin zur Kultfigur gemacht, erhält der brillante Ermittler hier eine zeitgemäße, tiefgründigere Inszenierung. Die zweite Folge der neuen Reihe zeigt exemplarisch, wie Holysoft klassischen Stoff neu denkt – und dabei mehr wagt als bloße Nostalgie.
Mordverdacht mit tragischem Hintergrund
Im Zentrum der Geschichte steht eine scheinbar alltägliche Situation: Professor van Dusen, inzwischen etwas zurückgezogen lebend, erhält eine neue Pflegerin. Ihr Name: Hannah Josephine Hatch. Die junge Frau scheint professionell, freundlich und pflichtbewusst – bis sie plötzlich unter Mordverdacht gerät. Ein brutales Verbrechen hat sich ereignet, und die Indizien sprechen gegen sie. Doch van Dusen glaubt an ihre Unschuld und beginnt zu ermitteln – nicht im Auftrag der Polizei, sondern aus Überzeugung. Dabei stößt er auf eine Kette von Ereignissen, die tief in Hannahs Vergangenheit reichen. Der Fall entwickelt sich zu einem düsteren Puzzle voller ungelöster Fragen, tragischer Verbindungen und schmerzhafter Erinnerungen.
Menschliche Abgründe und kluge Köpfe
Im Zentrum des Geschehens steht natürlich Professor Augustus van Dusen, gespielt von Uve Teschner. Seine Darstellung des berühmten Detektivs ist souverän, klug und mit jener feinen Arroganz durchzogen, die die Figur seit jeher auszeichnet. Gleichzeitig bringt Teschner auch neue Facetten ins Spiel: Van Dusen zeigt Mitgefühl, zweifelt kurzzeitig an sich selbst – und ist dabei dennoch immer Herr der Lage.
Hannah Josephine Hatch, gesprochen von Manja Doering, ist mehr als nur eine Nebenfigur oder ein Auslöser für van Dusens Ermittlungen. Sie ist komplex, kämpft mit inneren Dämonen und wird durch Doerings intensive Stimme zu einem der emotionalen Zentren der Geschichte. Man leidet mit ihr, zweifelt, hofft – und erkennt nach und nach, wie tief ihre Geschichte tatsächlich geht.
Weitere Charaktere – ein misstrauischer Inspektor, zwielichtige Bekannte aus Hannahs Vergangenheit, medizinisches Personal oder neugierige Nachbarn – tragen zur dichten Atmosphäre bei. Jeder von ihnen könnte ein Motiv haben, jeder scheint etwas zu verbergen. Die Figurenzeichnung ist differenziert und glaubwürdig.
Düster, intensiv, entschleunigt
Dunkle Pfade I trägt seinen Titel nicht zufällig. Das Hörspiel taucht tief in emotionale und psychologische Abgründe ein. Dabei verlässt es bewusst die Grenzen des klassischen Detektivspiels. Es geht nicht nur darum, den Täter zu finden, sondern auch darum, Schuld, Trauma und Wahrheit zu ergründen. Die Erzählweise ist ruhig, aber nicht langsam – sie nimmt sich Zeit für Gespräche, Erinnerungen, innere Monologe. Statt hektischer Action gibt es intensive Dialoge, kluge Gedankengänge und atmosphärische Momente der Stille.
Der düstere Ton wird durch Musik und Sounddesign verstärkt. Die akustische Gestaltung ist zurückhaltend, aber effektiv. Statt dramatischer Klanggewitter setzt Holysoft auf gezielte Akzente: eine unheimliche Melodie, ein hallendes Geräusch, ein plötzliches Schweigen. Die Musik, komponiert von Boris Behringer, unterstreicht die emotionale Tiefe des Stoffes. Mal unheilvoll, mal melancholisch, mal neutral – sie verleiht der Geschichte zusätzliche Dimensionen.
Mehr als ein klassischer Krimi
Obwohl die Figur van Dusen aus der Welt der klassischen Detektivliteratur stammt, orientiert sich dieses Hörspiel eher am psychologischen Kriminaldrama. Der Fall ist nicht nur ein Rätsel, sondern eine Erzählung über menschliche Schwächen, Schuldgefühle und die Suche nach Erlösung. Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, oft durch Gespräche oder Erinnerungen der Figuren. Dabei gelingt es den Autoren, Spannung aufzubauen, ohne auf oberflächliche Effekte zurückzugreifen.
Die Entscheidung, den Fall auf zwei Teile aufzuteilen, ist dramaturgisch klug. Teil I endet mit einem spürbaren Cliffhanger, der Lust auf die Fortsetzung macht. Gleichzeitig bietet der erste Teil genügend Substanz, um als eigenständige Erzählung zu funktionieren.
Qualität auf hohem Niveau
Holysoft ist bekannt für aufwendig produzierte Hörspiele mit hohem Anspruch. Auch bei Dunkle Pfade I merkt man diese Ambition. Die Tonqualität ist exzellent, die Mischung sauber, alle Stimmen sind klar verständlich. Die Regie unter David Holy beweist Feingefühl: Keine Szene wirkt überhastet oder künstlich, jeder Dialog sitzt. Besonders lobenswert ist der Verzicht auf übertriebene Soundeffekte oder Klischees – hier wird intelligentes Hörspiel für Erwachsene geboten, das Atmosphäre durch Substanz erzeugt.
Neben den Hauptsprechern überzeugen auch die Nebenrollen. Sie sind nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern tragen zur Vielschichtigkeit der Erzählung bei. So entsteht ein lebendiges, glaubwürdiges Figurenpanorama, das über die reine Kriminalgeschichte hinausreicht.
Schuld, Erinnerung, Wahrheit
Ein zentrales Thema des Hörspiels ist die Frage nach Schuld – sowohl juristisch als auch moralisch. Hannahs Vergangenheit wird zur Projektionsfläche für Vorurteile, Ängste und verdrängte Konflikte. Gleichzeitig stellt sich van Dusen immer wieder selbst die Frage, ob seine Analyse genügt, um einen Menschen zu verstehen – oder ob er sich täuschen kann.
Auch das Motiv der Erinnerung spielt eine große Rolle: Was verdrängen wir, was vergessen wir, was prägt uns unbewusst? Die Handlung verwebt diese Fragen mit dem Mordfall und gibt dem Hörspiel eine zusätzliche Tiefe. Es geht um mehr als nur um einen Täter – es geht um Lebensgeschichten, Entscheidungen, Konsequenzen.
Anspruchsvolle Krimikost für Hörer mit Tiefgang
Van Dusen – Dunkle Pfade I ist ein Hörspiel, das weit über das klassische Whodunit-Format hinausgeht. Es bietet psychologische Tiefe, fein ausgearbeitete Figuren, eine dichte Atmosphäre und eine spannende Geschichte, die intellektuell fordert und emotional bewegt. Wer leichte Krimiunterhaltung sucht, könnte sich von der Ernsthaftigkeit und Komplexität überfordert fühlen. Wer jedoch bereit ist, sich auf eine Geschichte einzulassen, die Fragen stellt und nicht immer einfache Antworten gibt, wird belohnt.
Holysoft beweist mit dieser Produktion einmal mehr, dass modernes Hörspiel mehr sein kann als bloße Unterhaltung. Es kann Kunst sein, Reflexion, Erlebnis. Van Dusen ist zurück – und relevanter denn je.
Van Dusen – Dunkle Pfade I
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Produktion
- Produktion: David Holy
- Skript: Marc Freund
- Regie: Dirk Jürgensen
- Sounddesign: Eugen Schott
- Coverzeichnung: Stefan Sombetzki
- Dialogschnitt: Phillip Grosse Siestrup
Sprecher
- Augustus van Dusen – Uve Teschner
- Hannah Josephine Hatch – Manja Doering
- Spencer – André Beyer
- Wilma Crossland – Alexandra Lange
- Miles Arbogast – Achim Buch
- Gunter – Thomas Balou Martin
- Joshua T. Bishop – Sven Brieger
- Reuben Crossland – Konrad Bösherz
- Carrie Spencer – Dagmar Bittner
- Charlie Scribner – Jan Langer
- Laura Spencer – Cathlen Gawlich
- Ludvig Selznick – Jan Spitzer
- Mieter – Oliver Kube
- Ian Mahoney – Werner Wilkening
- Mieterin – Katharina Karcher
